Es ist nicht allen Warsteinern bekannt – die Existenz eines kleinen 236 Seiten umfassenden Buches, das sich wie ein Roman durch Kindheitserlebnisse eines jungen Warsteiners um die Jahrhundertwende des Jahres 1900 zieht. Gemeint ist das köstliche und liebevolle Werk „Stulzebulze“, in dem Dr. Ferdinand Dinslage (1891-1962) seine urwüchsigen Erlebnisse mit den typischen Gebräuchen der kleinen Landstadt Warstein darstellt. „Stulzebulze“, das plattdeutsche Wort für den „Purzelbaum“ oder den „Kurselkopp“ beschreibt in 45 kleinen Kapiteln den „Vorfrühling eines Lebens“ in einem „Gemeinwesen“, wie der Autor schreibt, „das in seiner Naturnähe, Biederkeit und Ursprünglichkeit des Lebensstils die charakteristischen Züge dörflichen Lebens in einer kleinen Stadt erkennen läßt“. Ernste und heitere Erlebnisse des Verfassers werden aufgeführt, der im Geschäftshaushalt seiner Kaufmannsfamilie in der Dieplohstraße an der Stelle des heutigen Rathauses 1891 geboren wurde, nach Kindheit und Schulbesuch in Warstein und Fulda und dem Abitur Zahnmedizin in Würzburg und Frankfurt studierte um später jahrelang eine Zahnarztpraxis in Dortmund und Arnsberg zu betreiben. Als sein Haus und seine Praxis 1944 durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs zerstört worden waren, flüchtete er für einige Jahre nach Allagen. Dort entstand 1948 sein Werk „Dorfstadtjugend“, das 1957 in zweiter Auflage und mit einigen Erklärungen für die plattdeutschen Ausdrücke unter dem Namen „Stulzebulze“ im Lippia-Verlag in Lippstadt in zweiter Auflage erschien. „Ein bunter Strauß von Kindheitserinnerungen“ und „Paradies der Kindheit, umhegt von Mutterliebe und altem Heimatbrauch, in den warmen Farben gemütlicher Darstellung und überglänzt von den Lichtern echten und kecken Humors“ heißt es in einer damaligen Würdigung des Werkes. Und in der Tat: Typische Warsteiner Bezeichnungen tauchen in seinem Werk wieder auf, freilich für den damaligen Leser „verklausuliert“ und erst nach einigem Rätselraten bis heute zu entschlüsseln. So wohnt der kleine „Fernand“ in der „Riedlohstraße“, der Dieplohstraße, der Nachbarort seiner Heimatstadt ist „Eckeleb“ (Belecke), unmittelbare Nachbarn sind die Familien „Samer“ (Cramer mit der Warsteiner Brauerei) oder der Gasthof „Herchenfeld“ (Bergenthal) in der Mitte seiner „Dorfstadt“ Warstein. Von besonderer Herzenswärme ist seine Erinnerung über die Weihnachtserlebnisse seiner Kindheit zu „Kaisers Zeiten“. In anschaulicher Art und Weise lässt er die Geschehnisse sauerländischer Weihnacht vor mehr als 100 Jahren vor dem Auge der Erinnerung wiedererstehen. So schreibt er nach dem Besuch des hl. Nikolaus und seines Knechtes Ruprecht über die Tage der Weihnacht. „Dann waren es nur noch wenige Nächte, und die Stille Nacht brach herein. Bis in den späten Abend ging es geschäftig zu in Vaters Laden. Jeder wollte noch eine Kleinigkeit für den Gabentisch kaufen. Wir Kleinen waren schon beizeiten zu Bett gebracht worden, denn in den frühesten Morgenstunden des ersten Weihnachtstages kam zu uns das Christkind. Fiebernd vor Spannung, ungeduldig und in froher Erwartung lagen wir in den Kissen, bis uns vor Müdigkeit die Augen zufielen. Schon halb fünf Uhr in der Frühe drangen die Klänge der Weihnachtsglocken vom nahen Turm (gemeint ist die Pfarrkirche St. Pankratius) an unser Ohr. Wir erwachten sofort. Auf dem Flur draußen erklang das kleine, helltönende Glöckchen des Christkinds. Es rief uns zu brennenden Weihnachtsbaum, zur Krippe und an den Gabentisch. Im besten Zimmer hatte es alles hergerichtet. Durch das handbreit geöffnete Fenster stoben einzelne Schneeflocken herein. Mutter deutete darauf und berichtete uns, dort sei das Christkind wieder hinausgehuscht und habe sich im Dunkel verloren. Es ist nicht möglich, die Stimmung in diesen weihevollen Augenblicken beim dröhnenden Klang der Kirchenglocken zu schildern“. „Im Halbkreis um den Weihnachtsbaum standen Stühle, auf denen die Gaben des Christkindes ausgebreitet lagen. Auf den einzelnen Plätzen waren die Namen verzeichnet: August, Heinrich, Josef, Fernand, Karl, Hedwig. Jeder rief nach der Mutter, um sie an der jubelnden Freude teilnehmen zu lassen. Weihnachtlicher Duft breitete sich im Zimmer aus. Es roch nach Spekulatius, Honig- und Pfefferkuchen, Schokolade und angebrannten Fichtenzweigen. Der würzige Geruch vermischte sich mit dem „Kölnisch-Wasser“-Duft von Mutters Taschentuch. An solchen Tagen war sie gar verschwenderisch und träufelte etwas mehr als sonst hinein“. Mit der Schilderung der Geschenke der Kindheit, einer Dampfmaschine oder einem kleinen Dreirad, das als „Flitzipeh“ (vom französischen Velociped abgeleitet) allgemeine Bewunderung erlang, oder dem Schlittenfahren vom Kreuz der „Riedlohstraße“ herab gehen die weihnachtlichen Schilderungen weiter, erinnernd an „Tausend Eindrücke und Stimmungen“ eines „goldigen Lausejungen, den man schon im ersten Kapitel ins Herz schließt und der ein Freund bleibt fürs Leben“, wie es im Epilog heißt.
Dr. Ferdinand Dinslage (1891-1962), Verfasser von "Dorfstadtjugend" und "Stulzebulze"